CP: Nach der Landung auf dem Frankfurter Flughafen musste
ich zunächst der Polizei Auskunft geben – ein erstes Ausfragen über
die Besuche von Susanne Albrecht in den Monaten zuvor, ihre
Kleidung, ihr Auto, über die Fragen, die sie mir gestellt hatte, die
Länge ihrer Besuche und, und, und.
Bei der Fahrt in den Taunus setzte sich rasch eine starke
Morgensonne durch. Zu hell, zu früh.
Es war kein Nach-Hause-Kommen, sondern Ankunft an einem Tatort.
Zu Hause gab es nicht mehr.
JA: Meine Schwester war mit zwei Begleitern da gewesen.
CP: Polizeiautos standen quer.
JA: Sie hatte nicht selbst geschossen, war aber mit den
Mördern ins Haus gekommen.
CP: Irgendwo flimmerte ein unermüdliches Blaulicht
JA: Sie, als Familienfreundeskind, hatte den Einlass der
Gruppe ins Haus ermöglicht.
CP: Beamte liefen im Haus umher. Begegnete man neuen
Gesichtern auf dem Flur, gab es im geschäftigen Lauf ein Innehalten,
ein „herzliches Beileid“ mit Händedruck. Ich fühlte mich blass im
Vergleich zu all den kräftigen Energien im Haus.
JA: Meine Mutter erzählt mir, ich sei danach stundenlang
durchs Wohnzimmer gelaufen…
CP: An den Fensterscheiben im Esszimmer waren Einschusslöcher
markiert.
JA: …und hätte gesagt:
CP: Eine 1 und eine 7 klebten am Fenster.
JA: Susanne hat nicht geschossen.
CP: Hier eine 3.
JA: Susanne hat nicht geschossen.
CP: Und die 2 an der Wand.
JA: Susanne hat nicht geschossen.
CP: Dort die 6.
JA: Susanne hat nicht geschossen.
CP: Daneben die 5,
JA: Susanne hat nicht geschossen.
CP: Und hier hinten auf dem Teppich die 4.
JA: Ich habe nur gesagt, was geschehen – oder eben nicht
geschehen - war. Denn Susanne hatte nicht geschossen.
CP: Schnell zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
Auf meinem Bett lag ein Kuvert, das mein Vater mir für die lang
geplante Familienreise nach Südamerika zurechtgelegt hatte. Ich
hatte die lange Hinreise unbedingt alleine machen wollen, und
deshalb geplant, genau zwei Tage später als meine Eltern
loszufahren.
Mein Trotzkopf könnte mir das Leben gerettet haben.
Neben dem Ticket lag noch ein kleiner Brief. Er endete mit den
Worten: „Gute Reise, Dein Papi“.
JA: In dieser Nacht schliefen wir drei, meine Eltern und ich,
gemeinsam in einem Bett. Das hatten wir noch nie getan.
In meiner kindlichen Logik war es für mich einfacher zu glauben,
dass Susanne etwas so Grauenhaftes, so Abgründiges nicht
selbstverantwortlich getan haben konnte.
Sie tat mir unendlich leid, und ich dachte, meine Eltern müssten
dafür verantwortlich sein.
Die Frage, wann ich sie wieder sehen würde, begleitete mich quasi
von der ersten Sekunde an.
Ich trauerte um den Verlust der Schwester, ich hatte panische Angst
vor einem weiteren Gewaltverbrechen, dessen Opfer ich sein könnte,
ich fühlte mich bloßgestellt meinen Freundinnen und Freunden
gegenüber
Ich fühle mich wie nichtexistent, weil ich von diesem Tag an für
viele Jahre in den Augen der anderen die Schwester von Susanne war –
und nichts anderes.
JA: Ebenso wenig wie wir auf das Desaster von 1977 vorbereitet
gewesen waren, waren wir auf Susannes Wiedersehen im Juni 1990
vorbereitet.
CP: Ich stand unter großer Anspannung – es war der Tag der
Hauptprobe vor meinem Operndebüt in Smetanas „Die verkaufte Braut“ am
Landestheater in Dessau. Nach der Probe schaltete ich auf dem Heimweg
das Autoradio ein.
„Ehemalige, lang gesuchte RAF-Terroristin Susanne Albrecht in Berlin
Marzahn gefasst.“
JA: Ich lebte bereits seit Jahren in der Potsdamer Strasse in Berlin.
Susanne hatte in unmittelbarer Nähe gelebt. Nicht in Jemen, nicht in
Libyen: In Marzahn-Ahrensfelde, am nordöstlichen Ende der geteilten
Stadt.
CP: Ich hatte Angst – schlichte direkte Angst.
JA: Sie hieß nun Ingrid B., geborene Jäger. Sie war verheiratet
und hatte einen Sohn. Ich war Tante!
CP: Der Name, die Geschichte waren aus einem anderen Leben – das
Leben lag weit hinter mir. Wie konnte die Geschichte wieder so nah, so
extrem nah herankommen?
JA: Ich war euphorisiert davon, dass die Verschwundene wieder da
war.
Ich durchblätterte und durchforstete die Zeitungen. Ich las mich satt.
CP: Der mir nur allzu bekannte lähmende Schockzustand war
augenblicklich wieder da.
JA: Ich war glücklich.
CP: Ich musste kotzen.
JA: Die 13 Jahre ihrer Abwesenheit waren für uns geprägt von der
Hoffnung, dass Susanne – wenn sie wieder auftauchte – eine Geschichte
zu erzählen haben würde, die die ungeheure Last ihres Verrats in einem
andern Licht erscheinen lassen würde.
Dieses, die Hoffnung nicht aufgeben wollen, hat uns unbewusst gelenkt
und geleitet.
Wir erhielten eine Besuchserlaubnis für Ingrid B., nicht für Susanne
Albrecht.
Man hieß mich in einem kargen, fensterlosen Raum warten, während meine
Mutter ihre verlorene Tochter endlich wieder in die Arme schloss.
Meine Mutter kam zurück und ich ging hinein. Da saß Susanne alleine
hinter einem Rahmen, einer Art Durchreiche, an einem Tisch. Es war
grauenhaft. Ein Gemisch widerlicher Emotionen hing im Raum, Tränen
flossen, man konnte sich nicht normal verhalten. Es waren nicht die
fröhlichen Tränen eines
glücklichen Wiederzusammenkommens. Sondern die Tränen der vollkommenen
Orientierungslosigkeit.
Wir nahmen uns nicht in die Arme. Das sah der Raum nicht vor. Sie
sagte mit ihrer sanften vorsichtigen Stimme: „Hallo Julia.“ Sie sagte,
dass sie mich ganz vergessen habe. Dass es ihr Mühe mache, sich daran
zu erinnern, dass es mich gab. Dass ich ja so klein gewesen sei. Ich
sagte, dass ich immerhin 13 Jahre gewesen sei, als sie verschwand.
Susanne sprach sächsisch. Original sächsisch. Da war nichts
Hamburgerisches in ihrer Stimme. Die durch die Kehle gezogenen Worte
klangen ganz anders als meine – und schafften eine künstliche und
gleichzeitig passende Distanz. Sie erzählte, dass ihre Legende in der
DDR keine Schwester vorgesehen habe. Ich verstand, dass ich
durch den Rost gefallen war.
Ich dachte an das Fahndungsplakat auf der Litfasssäule: „Hallo
Schwesterchen!“
Es war für mich wie ein Tritt in den Magen, dass sie mich vergessen
hatte. Es schien mir so ungerecht; als hätte sie ihren Teil eines
geheimen Deals nicht eingehalten, wonach wir einander Treue geschworen
hatten.
Susanne war wieder da, aber sie hatte ihre eigene Agenda.