Und so spielen Claudia Wiedemer und Silke Buchholz in diesem
geradlinigen, feinen Kammerspiel, das eher tragisches Familien- als
Politdrama ist, (…) die Geschichte zweier Frauen, die ironischerweise
durch die Tat aneinander gekettet sind. Unter sehr unterschiedlichen
Vorzeichen freilich.
Wiedemer und Buchholz gehen behutsam mit ihren Figuren um, stellen sie
nicht dar, sondern im besten Sinne nebeneinander vor. Weshalb dieser
Abend genau genommen kein Dialog ist, sondern eine Art Duett, mit
wechselnden Einsätzen. Und das durchaus auch im musikalischen Sinn,
denn an Cello (Wiedemer) und Klavier (Buchholz) liefern die beiden
auch gleich noch musikalische Untermalung. Mit wechselnden Einsätzen,
auch zweistimmig bisweilen, meist da, wo sich Erinnerungen kreuzen, an
die Kindheit zum Beispiel, die, wie das bei befreundeten Familien eben
so ist, zeitweise eine gemeinsame war.
Vor allem aber ist es ein Abend, der mitten in die Gegenwart reicht.
Welche Rolle spielten Stasi, BND und BKA bei der Angelegenheit und
warum ist bis heute manches so nebulös? Diese Fragen stellen sich
beide. Und wenn ganz am Schluss dann doch noch das Stichwort
Versöhnung fällt, dann ist es keine, die die Frauen miteinander
aushandeln müssen. Wenn es überhaupt Versöhnung geben kann, dann
müsste es die mit einer lückenhaften Geschichtsschreibung sein.
Das ist ein berührender, sehr intimer Dialog zwischen Angehörigen der
Täter- und Opferseite. Nicht zufällig ist auch hier ein epischer Text
Grundlage für eine theatralische Konfrontation. deren
Wirksamkeit darin besteht, dass eben nicht aufklärerisch
dokumentiert wird, sondern Nachgeborene schildern, ausdrücken, wie sie
emotional mit dem historischen Geschehen umgehen und wie die
Geschichte mit ihnen umgeht
An der Inszenierung von Mirko Böttcher bemängelt nachtkritik.de (s.u.)
kurioserweise, dass
„der Erzählung keine weitere Ebene hinzugefügt wird, die sich –
beispielsweise - der Geschichtsschreibung oder der Funktion
kollektiver Erinnerung widmet“ und fragt „warum dieser Stoff im
Theater behandelt werden muss“. Aber das ist ja gerade der Witz, dass
der bewusste Verzicht auf punktgenaue Dokumentation und auf
„kollektive Erinnerung“ die Geschichte für das Theater möglich macht:
Gefühle statt Fakten. Das Kerngeschäft des Theaters.
Eigentlich wollte ich nur auf eine Entdeckung im entdeckungsfreudigen
Theater unterm Dach hinweisen.
Das Theaterstück »Patentöchter« von Mirko Böttcher im Theater unterm
Dach beginnt mit einer fulminanten Szene: Zwei Frauen erinnern sich an
einen Tag, der ein familiärer Einschnitt war und zugleich ein
historisches Datum wurde. (…)
Dies ist ein starker Auftakt. (…)
Die Protagonistinnen beschränken sich in ihrer Sicht auf die RAF auf
einzig deren Brutalität und lassen die historische Einbettung des -
freilich anmaßenden - Stadtguerrilla-Konzepts in die politischen
Kämpfe der 70er und 80er Jahre außer Acht. Das ist in weiten Teilen
der Inszenierung seine Stärke. Zeigt sie doch den radikal subjektiven
Blick, den die beiden Frauen auf die historischen Ereignisse haben und
in dem sowohl die traumatischen Auswirkungen auf die Angehörigen als
auch das zwischen Sensationsgier und klischeehafter Vereinfachung
changierende Verhalten der Gesellschaft sichtbar werden.
»Patentöchter« ist eine Inszenierung mit beunruhigenden Botschaften. Wenn Einzelne sich zu Richtern aufschwingen und Geheimdienste ein seltsames Spiel mit den Bedrohern ihrer Ordnung treiben, mit jenen also, die nämlich Garanten ihres eigenen Arbeitsplatzes sind und perspektivisch zu Bedrohern der Ordnung ihrer Gegner werden können, bei solchem Spiel bleiben nicht nur die Angehörigen der Täter, sondern gleich die gesamte Zivilgesellschaft auf der Strecke. Schon seltsam, dass die NSA ihren Edward Snowden hat, im Falle des BKA aber Whistleblower fehlen.
Corinna Ponto, Tochter des von der RAF ermordeten Bankiers Jürgen
Ponto, und Julia Albrecht, Schwester der RAF-Frau Susanne Albrecht,
haben in einem Buch die Kollateral-Effekte" des Terrors auf das eigene
Leben eindrucksvoll notiert.
Mirko Böttcher hat im Theater unterm Dach ihre Geschichte mit den
Schauspielerinnen Claudia Wiedemer und Silke Buchholz einfühlsam
umgesetzt.
Ponto und Albrecht beschreiben, wie der Terrorakt zunächst wie ein
Blitz in ihr Leben fuhr
- und wie sie fortan nicht mehr sie selbst, sondern nur noch als ,,die
Schwester von ..." und
,,die Tochter von ..." wahrgenommen wurden. In aller Bitterkeit
vermerken Buch und Inszenierung aber auch komische Begebenheiten, etwa
wenn Wiedemer in der Rolle der Julia Albrecht erzählt, wie ihre
Umgebung mit Fahndungsplakaten der Schwester zugepflastert war und sie
sich erst nach dem Entschluss, das vertraute Konterfei bei jedem
Plakat mit ,,Hallo Schwesterchen" zu begrüßen, aus der Starre befreien
konnte.
Ein starkes Stück politischen Dokumentartheaters.
Ganz eindringlich wird´s bei der Erinnerung an die Festnahme von
Susanne Albrecht 1990 in Berlin-Marzahn, als das Duo jede Distanz
fahren lässt. „Ich war glücklich“, sagt Julia. „Ich musste kotzen“,
sagt Corinna. In solchen Momenten erreicht das Theater eine
Unmittelbarkeit, die ein Buch nie einlösen kann.
Schließlich reißt Corinna Ponto die Grenze zwischen dem Privaten und
dem Politischen endgültig nieder: „Ich glaube nichts mehr!“. Warum
sind die Zusammenhänge mit dem internationalen Terrorismus nie geklärt
worden? Warum sind so viele Akten vernichtet, bleiben andere der
Öffentlichkeit verborgen(…). Welche Deals gab es bei der
Wiedervereinigung?
Dieser Theaterabend ist eine Herausforderung, und hier passt es
besonders gut, dass im Malsaal hautnah gespielt wird. Hingehen,
anschauen, miterleben!
1. Patentöchter, Berlin: unauflöslicher Konflikt
Ich muss Herrn Weigel heftig widersprechen! Ich war gerade in der
Vorstellung, und was ich erlebt habe, war so nicht nur NUR im Theater
möglich, es hat mich sogar nach langem wieder an das Theater als
politischen Ort glauben lassen. Vor den Augen eines Publikums, das aus
lauter Nachkommen von Tätern und Opfern besteht, wird da das
Verhältnis zwischen dem Kind eines Mordopfers und der kleinen
Schwester der auf ganz perfide Weise am Mord Beteiligten verhandelt.
Durch eine großartige Dramatisierung und zwei großartige
Schauspielerinnen leistet das Theater unglaublich Wichtiges: man
versteht beide Positionen, versteht was die beiden Frauen fühlen, und
man wird mit voller Wucht in einen unauflöslichen Konflikt
hineingezogen. Man fühlt, wie es sein muss, für immer zu einer
Opferfamilie zu gehören,dadurch beschädigt zu sein, und auch wie es
sein muss, wenn die über alles geliebte Schwester am Mord am Vater
einer eng befreundeten Familie beteiligt war, ihn überhaupt erst
möglich gemacht hat. Aber die größte Identifikation findet nicht mit
einer der beiden Frauen statt, sondern mit dem, was zwischen ihnen
steht, mit der riesigen Frage, die hier verhandelt wird: wie können
diese beiden miteinander weiter leben? Man wünscht sich eine Katharsis
und begreift auch, dass das nicht möglich ist. Und anders als bei der
Lektüre des Buches- ist das KEIN deprimierendes Erlebnis! Denn dass
man da nicht allein sitzt, sondern sich gemeinsam solchen Fragen
aussetzt, und zwar total emotional (die Stimmung war zum Zerreissen
gespannt) und trotzdem ohne jede intellektuelle Vereinfachung, schafft
eine Gemeinschaft. Diese Private: Mord in der eigenen Familie- ist
extrem politisch.was tun, wenn das passiert ist? Diese Frage für eine
Zeit weder verdrängen noch vergissen noch abschieben, sondern
gemeinsam aushalten- das geht im Theater, das kann Theater- und tut es
hier. Danke an alle Beteiligten, das ist ein großer Abend.
2. Patentöchter, Berlin: künstliche Volte
Die Kritik, dass die Frage offen bleibe, was denn diese Inszenierung
einem Dokumentarfilm oder dem Lesen eines Buches voraushabe bzw dass
sie doch sinnvollerweise ganz andere Fragen(die Funktion kollektiven
Gedächtnisses etc) hätte behandeln sollen, finde ich eine äußert
künstliche Volte in einer Theaterkritik. Da gibt es eine Inszenierung,
die es ermöglicht Inhalte des kollektiven Gedächtnisses nach
Jahrzehnten nochmals neu aus einer (bzw zwei) anderen Perspektive(n)
zu betrachten, die Lücken genug lässt und dabei präzis genug ist, um
je nach Horizont des Betrachters eine Vielzahl ganz unterschiedlicher
Fragen aufzuwerfen und erstmal unversöhnlich im gemeinsam geteilten
öffentlichen Raum(des Theaters) stehen zu lassen und soll dann aber
irgendwie schon wieder was ganz anderes sein müssen. Warum diesen
Stoff im Theater? damit die interessanten relevanten unsere Realität
und unser kollektives Gedächtnis betreffenden Fragen nicht nur im Film
stattfinden. und warum noch? weil man im Theater sieht um was es bei
diesen Fragen eben immer auch geht, um das Lebendig(oder Tot)-Sein von
Menschen, um Annäherung, Austausch, Streit, das Teilen von Zeit und
Gesprächsbereitschaft, um die Frage auf welcher Basis wir eigentlich
als MENSCHEN miteinander leben (können). Mir scheint die Inszenierung
sehr gelungen. Man muß nicht teilen, was die Fragen der portätierten
Personen sind, aber man wird durch ihre Fragen hindurch mit den
eigenen konfrontiert, man wird konfrontiert mit einer grundsätzlichen
Frage (der alten Frage der RAF) nach Haltung.