Mirko Böttcher ist es ebenfalls beeindruckend gelungen, den
dreihundertseitigen Roman in knappe Spielszenen zu zerlegen und trotzdem die
Geschichte wie aus einem Guss zu erzählen. Die vielen Menschen, die Otto
Silbermann auf seiner Odyssee begegnen, werden durch drei Spieler verkörpert:
Silke Buchholz, Matthias Rheinheimer und Michael Rothmann.
Geniale Bühnenlösung
Zu Beginn ist die Bühne leer; lediglich ca.
drei Meter hohe graue Latten stehen verteilt im Raum. Die erweisen sich als
Aluminiumschienen, die so miteinander verschraubt sind, dass sie wie eine
Ziehharmonika auseinander- und zusammengeschoben werden können. Das Geräusch,
wenn sie bewegt werden, verursacht Frösteln. Sie stehen für Zimmer, Zugabteile,
Cafés, Grenzzäune, Gefängnisgitter. Durch Mark und Bein geht es, wenn mit einem
Holzstock dagegen gehauen wird.
Manchmal markiert ein Spot einen Dialog. Der
Plafond, der die Bühne nach hinten begrenzt, beleuchtet immer mal die Szene,
blau, rot, gelb; das Licht vermittelt je nach Farbe Freundlichkeit,
Gleichgültigkeit, Aggressivität. Akustisch nimmt man mehr unterschwellig als
aktiv einen Sound wahr – Musik, Zug- Straßengeräusche? – irgendwie nicht zu
fassen, aber körperlich spürbar.
Die Bühnenlösung ist so einfach wie
genial, blitzschnell können neue Situationen geschaffen, damit der Handlung den
jeweils entsprechenden Raum und dem durchweg großartigen Ensemble immer neue
Spielmöglichkeiten gegeben werden.
Poesie inmitten von
Schrecklichkeit
Der Otto Silbermann von Johannes Laux ist ein
freundlicher zurückhaltender Mann, der überhaupt nicht weiß, was ihm geschieht.
Die Hoffnung, dass sich alles doch noch irgendwie zum Guten wendet, stirbt in
ihm sehr langsam. Er bewegt sich zwischen den scharrenden Metallschienen erst
mal ganz selbstbewusst. Aber immer mehr engen sie ihn ein, stolpert er durch
schmaler werdende Öffnungen, versperren die Schienen ihm schließlich jeden Weg.
Sein Koffer – ein heutiges Hartschalenmodell in Blau, in dem sich sein ganzes
Geld und damit seine einzige Überlebenschance befindet, ist ihm dabei wie ein
Klotz am Bein und wird ihm am Ende sowieso gestohlen.
Aber es gibt auch
Menschlichkeit und Nähe während der Odysee des Otto Silbermann und sogar fast
eine Liebesszene, wenn plötzlich aus einer der Aluminumschienen ein rotes
Seidentuch flattert und Otto und die Frau, der er sich anvertraut, umfängt.
Alle vier Darsteller sind in kleinkariert gemusterte Hosen, weiße Hemden mit
Manschettenknöpfen und blassfarbene Strickwesten gekleidet (Bühne und Kostüme:
Flavia Schwedler); an die Mode der dreißiger Jahre angelehnt
und gleichzeitig modern. Diese Uniformierung hebt die Geschlechter der jeweils
agierenden Figuren auf und unterstützt die Inszenierung klug darin, uns die
Zeitlosigkeit und Aktualität von Flüchtlingsschicksalen vor Augen zu führen –
und das ganz ohne den berühmten Zeigefinger.
Jetzt hat Regisseur Mirko Böttcher den Roman für die Bühne adaptiert und im Kleinen Theater inszeniert. Und zwar sehr reduziert und äußert beklemmend. Das fabelhafte Schauspielerquartett steckt dabei in Pullundern zu karierten Hosen. Mehr optische oder modische Referenzen an das Ende der 1930er Jahre gibt es nicht. Auf der Bühne verbreiten derweil ausziehbare Stahlgitter eine frostige, menschenfeindliche Atmosphäre, setzen Grenzen und engen Bewegungsabläufe ein. (…)Also fährt Silbermann weiter Bahn, weil er sich nirgendwo hinwenden kann und verliert unterwegs auch noch sein Geld. Die Bedrängnis seiner Situation, auch seine Ängste werden dabei immer wieder chorisch verstärkt. Die 90 Minuten zeigen packend, wie rasant sich seine Lage zum Tragischen entwickelt. Eine Warnung vor Rechtsnationalismus und Antisemitismus.