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CIRCE

zitty 26/2015


Das Ensemble, das mit dem antiken Namen Circe an die Irrfahrten des Odysseus anspielt, ist auf Recherche-Reise gegangen: Was geschieht eigentlich mit unseren digitalen Daten? Wer bekommt sie, wem gehören sie eigentlich? Und je länger die drei Performer sich in das Labyrinth der Datenströme vertieften, desto mehr Fragen stellten sich. Da werden ganz reale Telefonate eingespielt, die eindringlich dokumentieren, dass Datenverkauf ein lukratives Geschäft ist. Der Zuschauer erlebt eine Big-Brother-Welt, in der die Betroffenen, mit deren Daten ge­dealt wird, keinerlei Kon­trolle mehr haben.

Dieses hochaktuelle Dokumentar­theater arbeitet mit ganz einfachen Mitteln: drei Stühle, drei Spieler, ein leerer Raum, identische graue Anzüge. Die Büchse der Pandora, der digitalen Anglizismen, öffnet sich: the world wide web on stage.

Charaktere gibt es nicht, hier treten ganz offensichtlich Datenträger auf, fremd in Global-City, sich ihrer eigenen Rolle nicht mehr sicher. Der Zuschauer, dem in direkter Ansprache erklärt wird, dass seine Daten ihm gehören, lernt: Im Assessment-Center wirst du zur messbaren Größe – auch für den Arbeitgeber. Dabei sind diese spannenden zwei Stunden nicht nur erhellend sondern auch durchaus komisch.



Prenzlauer Berg Nachrichten 9.11.2015


Schlimm, was mit unseren Daten passiert. Wie schlimm? Das erforscht das Theater unterm Dach. Man will sich danach auf der Stelle selbst entfreunden. Und zur digitalen Beerdigung bitte einen AGB-Choral.

Was für ein brühwarmer Novemberabend aber auch, jahreszeitenmäßig ist das nicht das, was man bestellt hat als Kunde, als Berlin-Besucher, als kritischer Kulturmensch. Die Sprachwerkzeuge sind auf Frostfrust eingestellt. Wohin jetzt damit? Blöd. Im Foyer des Theaters unterm Dach und auf dem alten Balkon mit Blick auf die Danziger Straße ziehen die Leute ihre Jacken aus und hocken herum. Stehen plötzlich alle gleichzeitig auf und gehen Richtung Bühneneingang.

Latentes Fernsteuerungsgefühl
Es sind ja durchaus noch ein paar Minuten bis zum Beginn der Vorstellung von „#Circe – Schatz, ich hab die Daten verschenkt“. Latentes Fernsteuerungsgefühl. Es muss am fahrstuhlmusikuntermalten Gesäusel aus den Lautsprechern liegen. Eine Computerstimme sagt: „Menschen, die sich für das Theater unterm Dach interessieren, interessieren sich auch für...“. Ein Besucher fragt: „Warum stehen auf einmal alle auf, es geht doch noch gar nicht los?“ Er ist der Letzte in der Schlange und schaut so streng, als hätten wir gerade streberhaft unseren freien Willen an der Garderobe abgegeben.

„BAM!!!“
Manchmal, in ausgewählt unwichtigen Momenten, funktioniert das kritische Bewusstsein halt doch noch. Alle machen mit? Ich nicht!

Voll rein in diese überaus empfindliche Stelle – „BAM!!!“ – hauen Mirko Böttcher (Regie/ Konzept) und sein Ensemble mit einem bitterspaßigen Textstaccato aus Marketing-Prosa, durchgeknallter Selbst- und Fremddurchleuchtungslyrik und realen Telefonaten mit Adresshändlern und anderen Datensammlern. Unter Diskokugeln, die ihre Reflexe wie Hunderte Suchscheinwerfer ins einander gegenüber sitzende Publikum werfen, singen die drei Namenlosen einen Choral aus Facebook-AGBs und vollführen ihre gespenstischen Rasterfahndungen: Jemand hat kein Smartphone, keinen E-Mail-Account und kein GPS? „Er ist krank“. – „Oder Terrorist“.

Verfolgungswahn? Sozialkritik. Hasskommentar!
Oweh, das klingt natürlich rechtschaffen plakativ nach Verfolgungswahn. Doch indem Silke Buchholz, Claudia Wiedemer und Christoph Schüchner immer wieder auch Sätze vortragen (und vorsingen), wie sie exakt in AGBs stehen, denen man angeblich zugestimmt hat, wird das sozialkritisch Wohlformulierte nur zum kleinen Partikel, dem eine grotesk reale Macht gegenübersteht. Zur beschaulichen Inszenierung, die auf eine noch viel totalere verweist.

Ohne die Intimität der kleinen Bühne zu sprengen, genehmigen sich Böttcher und Team einen kleinen Schuss theatraler Herbert-Fritsch-Spasmen. In ihren uniformierten, bloß pseudo-individuell markierten Körpern (schwarze Anzüge, nur die T-Shirts unterscheiden sich) werden die Figuren abwechselnd zu Agenten des Bösen und zu deren Opfern. Flüstern einzelnen Zuschauern freundlich zu, dass ihnen „deine Privatsphäre sehr wichtig" sei und hören dann mitleidlos zu, wenn ein Mensch sich für seine Halbsuff-Posts von vor zehn Jahren rechtfertigt.

Man muss eben „in die Menschen hineingehen“
Der schwer beladene Text pulsiert und irrlichtert überraschend lebendig und lässt sein Abstraktes hinter sich, wenn die drei Schauspieler ihn in virtuos hinausgeschleuderten Kaskaden durchs hitzige Bühnendunkel jagen. Ihre Bewegungen sind Brokern, Medienmenschen und anderen Büroexistenzen abgeschaut: Gequält und doch emsig unterwerfen sie sich einer strengen Bürostuhl-Choreographie, typischen Selbstumkreisungen und leeren Ruderbewegungen aus falschem Pathos, wie sie täglich millionenfach stattfinden, während all die Algorithmen nicht bloß Menschen sortieren, sondern parasitär „in die Menschen hineingehen“.

Aus denen kommt dann andererseits auch wieder einiges raus. Die aus dem Off gewisperten Hasskommentare wirken hier wie der Schaum, der auf Abwässern schwimmt, eklig, unvermeidbar, überflüssig, infektiös.

Toll aber auch, wie die sich den ganzen Text merken
So ganz ohne Trost oder Handlungsvorschläge mag das Circe-Team sein Publikum dann doch nicht heimschicken. Wie dem also entrinnen? Durch Vorsicht? Durch Überfordern durch Ganz-nackig-Machen? Durch Nachdenken? Angepriesen wird die Leistung des menschlichen Gehirns, es sei „ein Ferrari“ im Gegensatz zu all den Maschinen, denen man täglich das Denken überlasse. Doch der Gegenentwurf entpuppt sich als verzweifelter Akt der Selbstbehauptung, denn in diesem Moment entblößt sich erst wirklich der Schauspielerkörper, der ja immer auch sein Hirn auszubeuten hat: „Was denken Sie, wie ich mir sonst diesen ganzen Text merken könnte?“ jubelt Christoph Schüchner irr begeistert ins Publikum. Ja, das Hirn, stimmt, da war mal was.

Man denkt also, zusammen mit den freundlicherweise sich dem Wahnsinn stellvertretend und leibhaftig ausgesetzt habenden Schauspielern: Kann es eine digitale Selbstauslöschung geben? Nö. Am Ende steht – und da kichern einige bitter - der ultimative Freiheitsentzug: der Ausschluss der Möglichkeit, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Was tun, wenn irgendwann ethische Sensoren Backröhren sagen, wann „etwas Lebendiges“ darin steckt? Wenn intelligente Seile ein Erhängen unmöglich machen und Bio-Chips unter der Haut Tablettenüberdosierungen konterkarieren?

Nein, ein Entrinnen war nicht vorgesehen, die Handys sollten wir nur auf lautlos stellen, aber nicht ausschalten, und bitte sofort posten, was wir sehen. Bleibt nur, in die warmdunkle Novembernacht hinauszugehen in den engen Raum, der noch bleibt.



 

Berliner Morgenpost, 10.11.2015


Im Würgegriff der Datenkraken ist der Mensch inzwischen vor allem eines: ein Datensatz. Messbar, überwachbar und vermarktbar. Mit bedenklichen, aber auch irrwitzigen Konsequenzen, die jetzt eine Produktion im Theater unterm Dach im Prenzlauer Berg aufgreift: "Schatz, ich hab die Daten verschenkt" heißt das Projekt, das sich mit #circe selbstredend auch ein eigenes Hashtag spendiert und per Crowdfunding mitfinanziert wurde.

Regisseur Mirko Böttcher schickt darin mit Silke Buchholz, Claudia Wiedemer und Christoph Schüchner drei Performer in googlebunten T-Shirts in den Datendschungel. Sie versorgen uns von ihren rollenden Bürodrehstühlen aus erst mal mit allem, was das digitale Dickicht so an Zahlen hergibt und mit schrägen Erkenntnissen zum Beispiel über den statistischen Zusammenhang von Lakritzkonsum und HTML-Kenntnissen sowie der Affinität von Zahnseidebenutzern zu Horoskopen. Fakten, die die Welt nicht braucht. Die es aber trotzdem in Hülle und Fülle gibt, weil wir mit jeder Information, die wir in den Weiten des Netzes suchen, unzählige neue produzieren und uns dabei selbst zu Zielgruppenpartikeln machen.

Noch bedenklicher wird die Sache beim Bewerber-Screening auf Basis des persönlichen digitalen Fingerabdrucks und bei den vorab geführten und nun eingespielten Telefonaten mit Datendealern. Es gibt liturgisch vorgetragene Nutzungsbedingungen, einen sehr schönen AGB-Choral und eine schräge Begegnung mit dem eigenen digitalen Double, das mit seinem übermächtigen Gedächtnis mehr über uns weiß, als uns lieb ist, und sich leider als unlöschbar erweist.

Das ist ein mächtig großes Feld für nur knapp 80 Spielminuten, aber wir User, Sharer und Follower sind ja inzwischen bestens gewöhnt an knappe Inhaltshäppchen, insofern ist der Abend konsequent als schlaglichtartige Stichwort-Revue zur digitalen (Un-)Mündigkeit konzipiert. Der Erkenntnisgewinn hält sich dabei in Grenzen, aber es ist hier charmant mit Verve und Ironie aufbereitet, was wir alle längst wissen und gekonnt verdrängen..

Irgendwann hilft ohnehin nur noch "digitales detoxing": Mit Gitarre und Gruppenkuscheln bekommt das virtuelle Social-Media-Lagerfeuer analoge Romantik verpasst und das ohnehin genialste Rechenzentrum der Welt seine längst fällige Würdigung: das menschliche Gehirn. Es hat zwar ein paar emotionale und neuronale bugs, aber eben auch einen Riesenvorteil gegenüber seinen technischen Pendants: Es kann vergessen.